Mär
10.
Es ist Zeit zu handeln! Barrierefreies Denken bedeutet eine Komfortsteigerung für alle. Es sollte nicht länger als lästiges Bedürfnis hinten angestellt, sondern als Frage des Selbstverständnisses betrachtet werden. Darin sind sich alle Diskutanten auf dem 1. Tag des barrierefreien Tourismus einig. Die Messe Berlin bietet unter Federführung der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V., NatKo, dem Marktsegment Accessible Tourism eine Plattform im ITB Kongress. Diskutiert wird das Marktpotenzial von Reisenden mit Handicap. Sie bringen der Tourismuswirtschaft derzeit fünf Milliarden Euro Umsatz. Die Prognose von NatKo-Vorstand Dr. Rüdiger Leidner unterstreicht die Wirtschaftskraft: „Mit barrierefreien Angeboten kann sich der Umsatz noch mehr als verdoppeln.“
Fast 40 Prozent der Bevölkerung haben in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis einen Menschen mit Behinderung. „Reist eine Schwiegermutter oder Großmutter mit der Familie und bucht ein barrierefreies Zimmer“, schildert Leidner, „freut sich der Hotelier, dass sein behindertengerechtes Zimmer ausgelastet ist. Er sollte realisieren, dass die Begleitpersonen ihm einen vier- oder fünffachen Umsatz bescheren.“ Werner Sülberg, Leiter des Bereichs Strategische Konzernentwicklung und Marktforschung Touristik der Rewe Group, will „den Fokus komplett öffnen“. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels sei Leidners Schätzung „viel zu gering“: „Jenseits des 50. Lebensjahres ist jeder Elfte zu 50 Prozent behindert“, hat er gelesen und setzt nach, „aber höchstens der Hälfte sieht man das an.“ Er malt das Zukunftsszenario: „Vier Millionen Babyboomer wachsen in die Alterszeit.“ Für die Rewe Group ist „die Komplexität des Themas sehr groß“, skizziert Sülberg, „Airline oder Bahn befördern den Kunden mit Handicap drei bis vier Stunden, wir haben den Gast 14 Tage in Obhut.“
Die Deutsche Bahn transportiert laut Ulrich Homburg, DB-Vorstand Personenverkehr, täglich fast sieben Millionen Menschen. Da müssen „Lösungen gefunden werden, die möglichst viel abdecken“, erklärt Homburg die Herausforderung, „Mobilitätseinschränkung ist nicht eindimensional, sondern zum Teil sehr unterschiedlich.“ Voraussetzung für den konsequenten Ausbau eines großen Verkehrssystems sei die verlässliche Finanzierung der öffentlichen Hand, appelliert er an die Politik. ADAC-Vizepräsident Max Stich, seit Jahren ein Treiber des barrierefreien Ansatzes, hält ihm entgegen: „Wir müssen wegkommen, immer zu sagen, es muss finanzierbar sein.“ Mit Petra Hedorfer, der Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT), ist er optimistisch, dass „die Anbieter mitziehen, wenn wir einen strategischen Rahmen aufstellen.“ Stich plädiert für einfache, simple, klare Regelungen: „Wir müssen weg von vielen komplizierten Regeln und verschiedenen Zuständigkeiten.“ Die über 20 Millionen jährlichen Anfragen touristischer Art beantwortet der ADAC gewissenhaft - auch die zur Barrierefreiheit. „Hier kann der ADAC sehr viel helfen“, sagt der Vizepräsident und berichtet von dem Vorstoß, Autovermieter davon zu überzeugen, dass sie „selbstverständlich in den Urlaubsgebieten auch barrierefreie Mietwagen vorhalten sollten.“
Petra Hedorfer dankt NatKo-Vorstand Dr. Leidner „zutiefst, dass er das äußerst wichtige Thema beharrlich nach vorn schiebt“. An die über 3.500 Tourismusorganisationen in Deutschland richtet sie die Aufforderung, sich „nicht nur moralisch verpflichtet zu fühlen, sondern barrierefreies Handeln als Aufgabe zu begreifen.“ Die DZT hat „noch nicht die Fülle von Angeboten, die sie im Ausland bewerben kann“. Hedorfer beklagt, dass „es nicht sein kann, dass nur acht Destinationen der Arbeitsgemeinschaft Barrierefreie Reiseziele in Deutschland für die internationale Vermarktung verlässlich zur Verfügung stehen“. Es fehlt an ausgebildetem Personal, „Wir müssen uns mittelfristig aufstellen“, mahnt die DZT-Chefin, „wie es Wellness-Manager gibt, brauchen wir auch für dieses Thema Experten.“ In Sachen Barrierefreiheit, so weiß die DZT aus der Befragung von jährlich über einer Million Kunden, „hat Deutschland keine guten Noten.“ Das bekräftigt auch Lilian Müller vom Europäischen Netzwerk Barrierefreier Tourismus ENAT. „Gemeinsam sind wir in Europa schon ganz gut“, sagt die Schwedin, „aber jeder allein muss sich verbessern.“ Sie sieht die Gefahr, dass sich andere Teile der Welt in den letzten drei, vier Jahren viel schneller entwickelt haben. Müller: „Wir können schnell zurückfallen.“
Hedorfers Fazit: „Konzeption und wissenschaftlicher Hintergrund sind vorhanden, jetzt brauchen wir konkrete Umsetzung.“ Ausdrücklich begrüßt sie das durch Sondermittel finanzierte Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“. Gemeinsam setzen NatKo und Deutsches Seminar für Tourismus (DSFT), Berlin das Projekt um. Angedacht ist eine Qualifizierung von Angebot und Mitarbeitern, die Zertifizierung in vier Stufen von eingeschränkt bis vollkommen barrierefrei sowie eine gemeinsame Plattform. Alle Ländertourismusorganisationen sowie die Trägerverbände der deutschen Tourismuswirtschaft haben sich dem Projekt verpflichtet. „Wir brauchen den Schulterschluss“, plädiert Hedorfer, „das ist imagefördernd für das Reiseland Deutschland!